Prof. Rainer Mausfeld - Die Angst der Machteliten vor dem Volk
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Prof. Rainer Mausfeld beschreibt die repräsentative Demokratie als „Illusion von Demokratie“, mit der das Volk von echter Demokratie abgehalten werden soll. Er zeigt die Mechanismen der Manipulation auf und nennt in seinem Vortrag konkrete Ansätze echter und „partizipatorischer“ Demokratie.
Die Angst der Machteliten vor dem Volk
Echte Demokratie - Prof. Rainer Mausfeld
Frage: haben Sie Ihre Überlegungen zu guten Alternativen und zu echter Demokratie weiter vertieft?
Antwort Prof. Rainer Mausfeld: nur rasch ein paar Anmerkungen zu Ihrer wichtigen Frage - geradezu die Kernfrage unserer emanzipatorischen Bemühungen -, wie sich eine wirkliche Demokratie erreichen lässt. Ich habe dies ja ausführlich im Lämmer-Buch und in Vorträgen z.B. in „Demokratie erneuern!” behandelt.(https://www.youtube.com/watch?v=VXhK8uN6WyA)
Wie immer man im einzelnen eine 'echte' Demokratie bestimmt - ob als Rätedemokratie, als partizipatorische Demokratie, als ungeteilte gesetzgebende Volkssouveränität, wie Ingeborg Maus dies in Fortführung der Traditionen von Rousseau und Kant in großer Detailliertheit ausgearbeitet hat, etc. - so muss man sich in jedem Fall zunächst daran erinnern, aus welchen Intentionen eigentlich der Gedanke der Demokratie im antiken Griechenland und in den vorhergehenden archaischen Gesellschaften entstanden ist.
Der Grund lag stets daran, dass man schon in der frühesten Zivilisationsgeschichte erkannt hatte, dass es zur menschlichen Funktionslogik der Macht gehört, dass Macht stets nach mehr Macht drängt und dass eine zivilisatorisch nicht regulierte Anhäufung von Macht gesellschaftlich destruktive Auswirkungen hat. Also haben schon überall auf der Welt archaische Gesellschaften ein reiches gesellschaftliches Instrumentarium entwickelt, um damit eine exzessive Anhäufung von Besitz und Macht zu verhindern (David Graeber und David Wengrow vermitteln in ihrem beeindruckenden Buch "Anfänge" ein Bild dieses reichen und höchst kreative Spektrums frühester Ansätze zu einer Elitenkontrolle).
Auch bei den Griechen war es, wie bei Solon dargestellt, gerade wieder die Elitenverkommenheit, die die Gesellschaft Athens zu zerstören drohte und gegen die zivilisatorische Schutzbalken erforderlich waren. Die Griechen führten durch ihre besondere Befähigung zur Abstraktionen, die Ideen aus dem orientalischen Bereich zusammen zu einem universalistischen Konzept der Demokratie.
Demokratie ist also ihrer Intention nach stets als ein Instrument der Elitenkontrolle gedacht, nämlich einer Elitenkontrolle durch die gesellschaftliche Basis. Alle Modell, die eine solche Intention erfüllen, können die Bezeichnung 'Demokratie' tragen. Dabei können sehr unterschiedliche Mechanismen zum Tragen kommen: Ämterbegrenzung, Losverfahren, strenge Rechenschaftspflicht, Scherbengericht etc. und eben auch Wahlen. Demokratie lässt sich also nicht auf den Akt der Wahl reduzieren.
Da es in pluralen und heterogenen Gesellschaften Fragen gibt, über die sich im öffentlichen Diskurs im Austausch miteinander kein Einvernehmen erzielen lässt, musste zumindest eine Einigung über prozedurale Wege erzielt werden, wie sich für ein politisches Handeln solche Uneinigkeiten auf friedlichem Wege bewältigen lassen. Eine solche Einigung, das war gerade die Idee der Antike und in ihrem Gefolge der Aufklärung, bestand daran, sich auf Prozeduren zu einigen, die allen einen freien und gleichen Zugang und ein gleiches Stimmgewicht garantieren, eben auf egalitäre Prozeduren, als freie und gleiche Wahlen.
Wahlen können jedoch nur frei und gleich sein, wenn die ihnen vorausgehenden Prozesse der Meinungsbildung gleichermaßen frei und gleich sind, also z.B. nicht ökonomisch Mächtige einen größeren Einfluß auf die Meinungsbildung haben, vor allem durch die Besitz von Massenmedien. Das wurde schon früh erkannt. So stellte der einflußreiche politische Philosoph John Dewey 1935 in "Our UnFree Press" fest, dass es freie Wahlen und damit Demokratie schlechthin solange nicht geben könne, wie die Medien in der Hand kapitalistischer Großkonzerne sind: „Wirkliche geistige Freiheit und soziale Verantwortlichkeit sind in größerem Umfang unter dem bestehenden Wirtschaftssystem nicht möglich.“
Wahlen in kapitalistischen Demokratien mögen zwar formal frei sein, können jedoch gar nicht psychologisch frei sein. So wie auch der Markt des Erwerbs von Konsumgütern gar nicht frei sein kann, sondern im Kapitalismus massiv durch Werbung bestimmt ist. Es werden also nicht einfach die zum Leben und zur Befriedigung natürlicher Bedürfnisse erforderlichen Produkte angeboten. Die Produktwerbung vermittelt vielmehr die Illusion, dass mit dem Erwerb von Waren eine ganze Lebensform, ein Lifestyle erworben werden kann.
Ohne massivste psychologische Steuerung des Käuferverhaltens, also ohne Werbung, würde der vielbesungene freie Markt, wenn nicht gar der Industriekapitalismus selbst, zusammenbrechen. In gleicher Weise würde die "kapitalistische Demokratie" ohne massivste Steuerung des Wählerverhaltens, also ohne Wahlkampagnen und Medienindoktrination, kaum aufrechtzuerhalten sein.
Produktwerbung und Wahlkampagnen unterlaufen gerade das, was sie rhetorisch zu fördern vorgeben. Produktwerbung unterminiert die Idee oder besser die Ideologie freier Märkte, denn Märkte können gar nicht frei sein, wenn die Marktchancen eines Produktes davon bestimmt sind, mit welcher Kapitalkraft jemand Werbekampagnen für sein Produkt inszenieren kann. Wahlwerbung unterminiert die normative Idee, dass die Wähler frei von äußerer psychologischer Manipulation abwägen können, welchen politischen Programmen sie den Vorzug geben.
Wahlwerbung will gerade eine freie Urteilsbildung über gesellschaftliche Verhältnisse in gleicher Weise unterminieren wie Produktwerbung eine freie Urteilsbildung über ein Produkt. Beide dienen geradezu dazu, die Aufmerksamkeit vom eigentlich zu beurteilendem Objekt abzulenken und Illusionen zu stiften, die den Wähler oder Käufer von einer vernünftigen Interessenabwägung abhalten sollen. Produktwerbung stellt daher eine Marktverzerrung dar und Wahlwerbung eine Verzerrung des gesellschaftlichen Willens. Beiden geht es darum, uninformierte oder fehlinformierte Konsumenten beziehungsweise Wähler hervorzubringen, um Interessen von Kapitalbesitzern durchzusetzen. Wer also über die finanziellen Mittel verfügt, entsprechende Kampagnen zu entwickeln und zu organisieren, kann andere in ihrer Urteilsbildung und in ihren Entscheidungen beeinflussen und ihnen damit gleichsam seinen Willen aufzwingen.
Wahlen in kapitalistischen Demokratien können somit gar nicht psychologisch frei sein, da hier die Wahlchancen davon abhängen, mit welcher Kapitalkraft politische Kandidaten durch Spenden Einfluss auf politische Parteien nehmen und Werbekampagnen inszenieren können, mit welcher Kapitalkraft sie also den Parteien- und Meinungsmarkt beherrschen können. Dabei spielen neben Lobbyismus, der mittlerweile die Form institutionalisierter Korruption angenommen hat, vor allem die Medien eine zentrale Rolle. Solange die Massenmedien in privater Hand oder eng in politische und ökonomische Machtstrukturen eingebunden sind, kann es keinen freien und unverzerrten öffentlichen Debattenraum geben und damit auch keine Wahlen, die man als psychologisch frei bezeichnen könnte.
Realität und Rhetorik von Wahlen in kapitalistischen Demokratien klaffen also, mit gewaltigen gesellschaftlichen Folgen, weit auseinander. Dennoch gelangt all dies nicht in den öffentlichen Debattenraum. Mehr noch: Die sogenannten Qualitätsmedien, die diesen Debattenraum überhaupt erst schaffen, beharren geradezu aggressiv und kontrafaktisch darauf, dass die normativen Vorstellungen psychologisch freier demokratischer Wahlen im Großen und Ganzen auch der gesellschaftlichen Realität entsprächen …
Seit Jahrzehnten zeigen hingegen Studie um Studie akribisch empirisch auf, dass die Kapitalkraft, also Geld, einen überwältigenden Einfluss auf Parteien und Wahlen in kapitalistischen Demokratien hat.
Stets sind es die ökonomisch starken Akteure, die Parteiprogramme festlegen, Kandidaten finanzieren und die Zwänge und Grenzen festlegen, innerhalb derer politische Entscheidungen getroffen werden können.
Die Frage, wie man heute zu einer wirklichen Demokratie kommen kann, führt zwangsläufig auf die Frage, ob der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung psychologisch frei ist oder aber durch mächtige Elitengruppen dominiert wird - was gerade der ursprünglichen Leitidee von Demokratie als einer Elitenkontrolle durch die gesellschaftliche Basis entgegenliefe, weil damit die zu Kontrollierenden letztlich die Kontrollierenden wären.
Solange also die großen Medien nicht durch die gesellschaftliche Basis kontrolliert werden - auch dies wurde schon früh erkannt, etwa durch Dewey, und seitdem immer wieder aufgezeigt -, lassen sich die Bedingungen einer Möglichkeit von Demokratie nicht erfüllen. Eine überwiegende Kontrolle der Medien durch Macht- und Besitzeliten entzieht der Demokratie die Grundlage.
Dieser Teufelskreis kann durch Wahlen allein nicht durchbrochen werden, die Änderungen müssen also sehr viel tiefer ansetzen. Dazu fehlt es aber gegenwärtig - unter dem Einfluss der Massenmedien - offenkundig an breiterer Bereitschaft.
Die Geschichte - vom antiken Griechenland über den Feudalismus bis heute - zeigt, dass die Bereitschaft erst wieder wächst, wenn die destruktiven Folgen von Elitenversagen und Elitenverkommenheit von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als unerträglich wahrgenommen werden.
Wie zahllose empirische Studien aufzeigen, sind wir davon, trotz wachsender Empörung in marginalisierten Teilen der Bevölkerung, weit entfernt: Die Status-quo-Befürwortung, die politische Apathie und die moralische Gleichgültigkeit haben durch Konsumismus, Unterhaltungsindustrie, Überflutung mit Nichtigkeiten durch Medien und durch soziale Atomisierung wieder neue Höchststände erreicht.
Um so wichtiger sind all die Initiativen wie die Ihre, überhaupt cracks in the wall zu finden, um diese Teufelskreise zu durchbrechen und der gesellschaftlichen Basis überhaupt erst wieder eine Stimme zu verschaffen.
Mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüßen
Rainer Mausfeld
„Demokratie erneuern!” - Rainer Mausfeld - DAI Heidelberg 2020
(https://www.youtube.com/watch?v=VXhK8uN6WyA)
Demokratie lebt von der Debatte.
Demokratie heißt: Interessenunterschiede in einem öffentlichen Debattenraum friedlich austragen, um zu einem gemeinsamen gesellschaftlichen Handeln zu finden.
Doch: Wie können wir unsere eigenen kognitiven und gefühlsmäßigen Beschränktheiten und Vorurteile erkennen? Warum reagieren wir so aggressiv, wenn unsere selbstverständlichsten Vorurteile in Frage gestellt werden? Wir sind so beschaffen, dass wir dazu neigen, unsere Gewohnheiten für Überzeugungen zu halten. Unser Geist produziert gleichsam instinktiv „Meinungen“. Ideologien sind gewissermaßen die kollektiven Vorurteile, die den Status quo als selbstverständlich erscheinen lassen.
Wie lassen sich nun die eigenen Interessen objektivieren? Wie gewinnen wir eine gemeinsame Kommunikationsbasis für ein demokratisches Gespräch, das sich an Argumenten orientiert?
Prof. Rainer Mausfeld (u.a. 2019 am DAI mit „Warum schweigen die Lämmer?“) spricht über Demokratie, Ideologien und Wege des Denkens.