Wählen oder nicht wählen?

Welchen Sinn hat es zu wählen, wenn ich mich von den Parteien und Institutionen nicht mehr vertreten fühle? Welche Alternativen gibt es und welcher weg würde zu einer echten Demokratie führen?

Überlegungen von Bernhard Oberrauch, aktualisiert am 17.09.2022

Christian Stadler hat zu diesem Thema einem Bekannten geantwortet:

„Ja jeder hat das Recht auf seine Meinung. Aber die Meinung muss der kritischen Diskussion Stand halten und deshalb widerspreche ich dir im Ergebnis .

Über die Evidenz und das Nachdenken können wir über die Richtigkeit der Meinung urteilen.

Nachgedacht haben wir schon ein bisschen und stellen deine und meine These fest. Von der Evidenz her untermauerst du deine These mit der Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der Politik. Aber (!), um deine These mit Evidenz untermauern zu können müsstest du mir einen Fall in der Geschichte zeigen können, wo das Nicht-Wahlen zu deiner Wirkung geführt haben und dem Sinne das die Regierung keine Legitimation hatte zu regieren und damit nicht mehr regieren könnten. Am Ende werden die Nicht- Wähler nie 100 Prozent sein und wenn auch nur 100 Menschen wählen gehen werden die Parteien diese stimmen mit x Prozent haben jene und y Prozent haben wieder eine andere Partei gewählt. Mit dieser Legitimation regieren sie dann. Der Punkt ist, dass dieser Gedanke des Nichtwählens nicht bei den Maßnahmenbefürwortern geteilt wird, die sicher wählen gehen, sondern eben bei jenen, die so denken wie wir und das System nicht mitgetragen haben. Wenn deine Meinung Schule macht und deshalb widerspreche ich dir, ist unsere Stimme nicht explizit vertreten.

Wähle ich eine Partei die gegen die Maßnahmen und für Frieden ist, gebe ich zumindest dieser Forderung im Akt der Wahl eine Stimme. Das Nichtwählens ist stimmlos und kann auch bedeuten: wer schweigt stimmt zu. In der Wahlmathematik ist das sicher so, dass Nicht-Wahlen der Elite zu gute kommt. Daher ist ganz klar, dass es ein Kalkül der Elite ist, die Nichtwähler (die eben, weil sie entweder faul sind oder in Opposition zum System stehen) möglichst groß zu machen .

Gut erforscht ist diese Absicht von Prof. Rainer Mausfeld: ich bitte innigst alle, diesen Vortrag („Die Angst der Machteliten vor dem Volk“) anzuhören damit man da übergehen kann zu prüfen, welche Parteien für uns in Frage kommen.

Nicht-Wähler zu sein ist ungewollt eine Form der Kollaboration mit der Elite!“

Prof. Rainer Mausfeld beschreibt die repräsentative Demokratie als „Illusion von Demokratie“, mit der das Volk von echter Demokratie abgehalten werden soll.1

„Was aber könnte Demokratie für die Mächtigen attraktiv machen, deren Macht sie ja gerade einschränkt und bedroht? Die Antwort ist ganz einfach: Nichts! Denn Demokratie bedeutet gerade, die Machtbedürfnisse der Mächtigen und Reichen einzuschränken, woran sie naturgemäß kein Interesse haben. Damit ergibt sich nun ein Spannungsverhältnis zwischen den Bedürfnissen der Herrschenden, ihren Status zu stabilisieren, und unserem Bedürfnis, uns gesellschaftlich autonom und hinsichtlich unserer gesellschaftlichen Situation als selbstbestimmt zu fühlen. Dieses fundamentale Spannungsverhältnis hat sich in der Geschichte häufig in Form von Revolutionen entladen. Wie läßt sich aus Sicht der Herrschenden dieses Spannungsverhältnis entschärfen, wenn man blutige Revolutionen vermeiden möchte?

Die Lösung liegt darin, das Freiheitsbedürfnis der Bürger mit einem Surrogat zu ‚stillen‘, es mit einer Ersatzdroge zu befriedigen, nämlich der Illusion von Demokratie. Um eine solche Illusion von Demokratie zu schaffen, benötigt man vor allem - und genau hier kommt die Herden-Metapher wieder ins Spiel – eine Rechtfertigungsideologie, die begründet, warum das Volk unmündig sei und einer Führung bedürfe. Ferner muß die für das Volk so attraktive Idee von Demokratie so entleert werden, dass sie nur noch auf einen Wahlakt beschränkt ist. Und schließlich benötigt man ein kontinuierliches Demokratiemanagement, damit das Volk bei dem Wahlakt auch so will, wie es wollen soll.“

Ich habe mittlerweile mit vielen Menschen gesprochen, die nicht wählen gehen wollen, und mir viele Interviews zu diesem Thema angehört (7). Ich habe sehr viel gute Argumente gehört, warum es nicht reicht, wählen zu gehen, und ich teile diese Argumente. Auch ich will mich nicht damit abfinden, nur “die Stimme abzugeben”, ich will meine Stimme behalten und erheben.

Adv. Alessandro Fusillo sagt richtigerweise, dass ein normales Mandat mit einer Vereinbarung verbunden sei, die der Mandatsträger auch einhalten muss. Diese Bindung ist derzeit bei einem politischen Mandat nicht vorhanden.(2) Ich denke, dass über eine solche Bindung sehr wohl nachgedacht werden kann.

Weiters sagt er, dass bei einem echten „Gesellschaftsvertrag“ die Nicht-Erfüllung eingeklagt werden kann3. Auch hier stimme ich Adv. Alessandro Fusillo zu.

Bei den heurigen Palamentswahlen kenne ich nur eine einzige Partei, welche den Rücktritt der Mandatare zusagt, sollten sie sich nicht an das Wahlprogramm halten, das sie den Wählern versprochen haben.

Allerdings meint Adv. Alessandro Fusillo, dass es hilfreich sein würde, eine „aktive Stimmenthaltung“ zu betreiben. (4)

Nach meiner Auffassung erreichen wir mit der bloßen Stimmabgabe noch lange keine echte Demokratie- in diesem Sinne gebe ich Fusillo, Matteo Gracis, Prof. Paolo Sceusa, Massimo Mazzucco (5) und allen anderen recht, die eine „aktive“ Stimmenthaltung und ein Engagement auf anderer Ebene fordern, um das System zu ändern (6).

Andererseits macht die Stimmenthaltung noch weniger eine echte Demokratie.

Ein Engagement für eine echte Demokratie, indem sich Menschen vernetzen, Konzepte erarbeiten, alle Formen des aktiven und organisierten Dissenses ausüben („le forme di dissenso attivo e organizzato“) und diese über alle möglichen Kanäle und über Demonstrationen verbreiten, dies sind wichtige Schritte, um eine echte Demokratie zu erreichen. Und diese Schritte werden erleichtert, wenn es auch Parlamentarier gibt, die dieses Engagement unterstützen.

Insofern geht es für mich nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl als Auch.

Der Übergang von der repräsentativen Demokratie in eine echte Demokratie kann von Parlamentariern unterstütz werden, die wirklich das Wohl der Menschen wollen.

Prof. Rainer Mausfeld nennt in seinem Vortrag „Die Angst der Machteliten vor dem Volk“ konkrete Ansätze echter und „partizipatorischen“ Demokratie:

  • Rätedemokratie (z.B. Anton Pannekoek)

  • partizipatorische Demokratie (z.B. Peter Bachrach, Tom Bottomore, Carole Pateman)

  • deliberative Demokratie (z.B. James S.Fishkin, Jürgen Habermas)

  • inklusive Demokratie (Takis Fotopoulos)

Abschließend schenkt das Nicht-Wählen den Eliten das Argument, dass sie mit den Grundrechtseinschränkungen und den Impfzwang gar nichts falsch gemacht hätte, da gerade jene Parteien, die sich darauf zum Schutz der Grundrechte, gegen den Green Pass und gegen den Impfzwang aus Aktivisten des Systemwiderstandes formiert haben, ein Wahldebakel eingefahren hätten. Das Wählen ist aus dieser Perspektive ein Akt des Widerstandes und ein unabdingbares Muss. Verschenken wir dieses Recht auf Widerstand nicht.(8)

“Nicht-Wählen” oder “Wählen” allein reicht nicht. Es braucht davor und danach ein starkes Engagement aller.

Ich begrüße eine vertiefte und offene Diskussion.


Quellen:

1 Vortrag Prof. Rainer Mausfeld

2 Avv. Alessandro Fusillo: Ep. 3 Il mandato - L'elefante nella stanza

3 Avv. Alessandro Fusillo: L'ELEFANTE NELLA STANZA - Ep. 5

4 Avv. Alessandro Fusillo: Analyse der Gründe für die Stimmabgabe und die Nichtabgabe

5 Massimo Mazzucco „Vuoi il mio voto? Vienilo a prendere“

6 Astensione costituente

7 Video intervista sul astensionismo costituente, con Paolo Sceusa e Alessandro Fusillo

8 Alberto Contri: “Contro l'inutile astensione, votate e promuovete la lista del dissenso più vicina alla vostra sensibilità.